Unterrichtsbesuche für Freunde und Förderer*

Was für ein Glück, jungen Menschen beim Sich-Ausprobieren zuschauen zu dürfen, beim Lernen, beim Wachsen, beim Werden! Als gewöhnliches Tanz- oder Theater-Publikum bekommt man ja immer nur Fertiges zu sehen, Fertig-Keiten im doppelten Sinn. Und wer schon mal bei Opern- oder Theaterproben dabei war, erinnert sich sicher nicht nur angenehm an den rauen Wind, der dort weht, dank Produktionsdruck und hierarchischer Strukturen. Bei meinen Unterrichtsbesuchen an der HfMDK begegne ich einem ganz anderen, freundlich zugewandten Geist.

Bewusst habe ich Unterrichtsstunden ausgesucht, in denen es um Körperarbeit ging, nicht um die Arbeit an einem Text. Weg von der Kopf-Autorität, hin zur Formung von Präsenz und Körperlichkeit. Dahin, wo ganz physisch Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und Vertrauen auf die andern entsteht.

Klebestreifen markieren das Bühnen-Achteck

Schon die erste Stunde mit angehenden Schauspieler*innen des dritten Semesters – „Szenische Körperarbeit“ bei Martin Nachbar – verblüfft mich: aus simplen Improvisationsvorgaben entwickelt sich sehr schnell etwas, das schon wie eine fertige (nur eben leider nicht reproduzierbare) Choreographie wirkt. So viel Energie ist da, Verdichtung und Auflösung, Konzentration auf sich selbst, aber auch Aufmerksamkeit fürs Tun der anderen, ein bewusstes Da-Sein im Raum, Wahrnehmen des Raums selber. Eines sehr spartanischen Raums im Übrigen, in dem lediglich Klebestreifen auf dem Boden jenes Achteck markieren, das später das Bühnenbild begrenzen wird.

Mein nächster Besuch führt in die Klasse von Nica Brendt Caccivio. Zeitgenössischer Tanz, acht junge Menschen, sechs Herkunftsländer, Unterrichtssprache: Englisch. Wie entsteht ein Körpergedächtnis? Wie erzeugt und übt man Bewegungsabläufe, die nicht einfach verpuffen, sondern wiederholbar sind? Paare bilden sich. Auf einem Flipboard steht eine Reihe von Anweisungen: Pull, push, stop, run…Und: Rollen wechseln! Dabei gehen die Paare sehr unterschiedlich vor. Eines hat ganz schnell für sich herausgefunden, dass der Hauptteil auf dem Boden stattzufinden hat. Mit- und aneinander erproben die beiden Verknäulungen, die auf eine unausgesprochene, aber dennoch klare Fragestellung zu antworten scheinen. Ein zweites Paar handelt die Sache erstmal verbal aus. Ein drittes wirkt, als ob die Bewegungsabläufe wie von selbst, aus dem Kampf entgegengesetzter Kräfte heraus erwüchsen. Zwei, drei Minuten lange Bewegungsabfolgen entstehen, die mehrmals wiederholt werden. Erst beim letzten Durchlauf kommt Musik dazu, die Nica Brendt Caccivio spontan auswählt – für jedes Duo ein anderes Überraschungs-Ei. Erstaunlich, wie sich dadurch nicht nur der Ablaufrhythmus ändert, sondern auch der Ausdruck (oder sollte ich sagen: der Eindruck?): zu Vivaldi scheinen da auf einmal zwei Botticelli-Nymphen zu schweben, beim Song von Sophie Hunger liegt geballte Melancholie im Raum – Gefühle und Bilder, die erst im Zusammenspiel von Auge und Ohr entstehen. Kaum mehr ist auseinanderzuhalten, was hier wie wirkt: der Tanz, die Musik.

Wachsendes Körper-Vertrauen

Und auch das gibt es an der Hochschule: Akrobatik-Unterricht! Ein Hauch von Turnhalle liegt in der Luft, wenn Didi Weyrowitz die Erstsemester Schauspiel behutsam herausfordert. Die Herausforderung liegt für alle auf unterschiedlichen Ebenen. Da gibt es die geborenen Kunstturner und solche, die ihren letzten Purzelbaum, wenn überhaupt, im Kindergarten geschossen haben. Aber egal – hier geht es darum, Zutrauen in den eigenen Körper zu gewinnen. Der Handstand will einfach nicht gelingen? Egal, nochmal versuchen, besser scheitern. Und noch einmal. Bis man am Ende wirklich steht – auf den eigenen Händen. Zum Abschluss der Stunde werden alle der Reihe nach von den andern auf Schulterhöhe gehoben und – das sieht ziemlich gefährlich aus! – gekippt, bis nichts mehr bleibt als abzuspringen. Das Vertrauen in die anderen verschwistert sich mit dem Vertrauen in sich selbst.

Zum Schluss noch einmal ein Besuch bei den Schauspiel-Drittsemestern, zur Durchlaufprobe für reigenartig aneinander montierte Szenen von Rainer Werner Fassbinder. Drei Wochen vor der Premiere im Frankfurt LAB ist das schon bekannte Achteck im kargen Probenraum von noch unsichtbaren Vorhängen umgeben (Zuziehen nicht vergessen!), darin stehen aber immerhin schon Sofa, Sessel und Requisiten. Die Regieanweisungen (Licht aus, Musik an, Auftritt, Black) spricht der Professor für Schauspiel Werner Wölbern leise in den Raum. So unfertig die Szenerie ist – die Szenen selbst sind so gut wie perfekt. Und die Schauspieler*innen schon ganz da in ihren Rollen. Am Ende der Durchlaufprobe zeigen sie stumme, eindringliche Pas de deux, die sie in der szenischen Körperarbeit mit Martin Nachbar entwickelt haben: aggressiv-verletzliche Miniaturkommentare zu Fassbinders erbarmungslosen Beziehungs-Texten.

Hier bin ich beinah schon am Ende eines Prozesses – und habe Lust, die Reset-Taste zu drücken. Zu sehen, was die Studierenden ganz am Anfang mitgebracht haben, damals, als sie frisch an die Hochschule kamen. Wie sie Ungeahntes in sich freilegten, welche Hindernisse sie ausräumen mussten. Wie sich das herausschälte, was jetzt sichtbar wird und in Zukunft unendlich wandelbare Formen annehmen wird: die Bühnenpersönlichkeit.

Über die Autorin

Dr. Ruth Fühner ist von Haus aus Germanistin. Sie hat viele Jahre als Moderatorin, Kritikerin und Autorin für hr2-kultur und andere Medien gearbeitet. Der GFF hat sie sich aus Begeisterung für die Energie und das Engagement junger Künstler*innen angeschlossen.

 

Text: Dr. Ruth Fühner, Mitglied der GFF

Foto © Marvin Fuchs